Geschichte und Entwicklung der Osteopathie

In den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die osteopathische Medizin in Amerika entwickelt. Der „Urvater“ der Osteopathie ist der US-amerikanische Arzt Andrew Taylor Still (1828-1917). Er wurde als Sohn eines Methodistenpredigers geboren und wuchs im Amerika des Sezessionskrieges auf. Die damaligen Prediger waren meist auch als Aerzte unterwegs und Still begleitete seinen Vater oft auf Krankenbesuchen. Stills Leben war durch persönliche Schicksalsschläge geprägt. Er musste hilflos zusehen, wie drei seiner vier Kinder an einer Meningitis-Epidemie starben und kurze Zeit später auch das vierte Kind an einer Lungenentzündung  starb. Die damalige Schulmedizin konnte nicht helfen, was Still dazu motivierte, nach alternatives Wegen zu suchen

Still entwickelte ein diagnostisches und therapeutisches Konzept, nach dem schwerpunktmässig manualtherapeutische Techniken angewendet werden. In seinem Konzept spielt der Bewegungsapparat die zentrale Rolle. Sowohl die Befunderhebung als auch die Anwendung therapeutischer Techniken erfolgen auf der Ebene der Körperfunktionen und –strukturen, wobei die Palpation zur Befunderhebung im Vordergrund steht.

Die Bezeichnung „osteopathy“ (aus griech. osteon: „Knochen“ und pathos: „Leiden“) wurde 1885 von Still geprägt, da er seinen neuen Medizin einen Namen geben wollte und eine Vorliebe für Begriffe hatte, die Knochenstrukturen des menschlichen Körpers bezeichnen.

Bei seinen ersten Vorträgen vor Kollegen in der Medizin stiess er auf grosse Skepsis. Doch schon bald hatte er grossen Erfolg mit seinem Behandlungskonzept. 1892 wurde in Kirksville, Missouri, die American School of Osteopathy als erstes College gegründet. Nach Stills Tod im Jahre 1917 gründete sein Schüler John Martin Littlejohn die erste Schulle für Osteopathie in Europa, die British School of Osteopathy in London.

Stills Konzept wurde nach seinem Tode fortgeführt und weiter entwickelt. Die Osteopathie ist heute in drei Bereiche unterteilt.

1. Die parietale (strukturelle) Osteopathie ist der älteste Bereich und die Basis, aus der sich die heutige Osteopathie entwickelt hat. Sie umfasst die Behandlung des gesamten Bewegungsapparates mit Knochen, Gelenken, Bändern, Sehnen, Muskeln und Faszien.  Dysfunktionen verursachen immer eine kompensatorische Veränderung der Statik, die eine aufsteigende und/oder absteigende Verkettung von Störungen mit sich bringen kann. Kurz gesagt: verschiedene Störungen sind miteinander verbunden.

2. Die viszerale Osteopathie befasst sich mit den inneren Organen, ihren bindegewebigen Aufhängungen, den Blut- und Lymphgefässe, sowie den entsprechenden Teile des Nervensystems. Es können z.B. funktionelle Störungen der inneren Organe über Reflexbögen die Funktion des Bewegungsapparates beeinflussen und umgekehrt. Therapeutisch versucht der Osteopath die Beweglichkeit und den Rhythmus der Organe zu harmonisieren, sowie Nervensteuerung, Blutversorgung und Lymphfluss zu normalisieren.

3. Die kranio-sakrale Osteopathie beinhaltet die Behandlung des mobilen Gefüges von Schädelknochen, Wirbelsäule und Kreuzbein-Steissbein, der Hirnhäute, Hirnflüssigkeit und des Nervensystems. Das kraniosakrale System ist ein wichtiges Regulationssystem des Körpers.

Andrew Taylor Still war fest davon überzeugt, dass der menschliche Körper eine Funktionseinheit ist und die Fähigkeit zur Selbstregulation besitzt. Nach seiner Auffassung hängen alle Körpersysteme zusammen und sind verantwortlich für die Gesundheit des Menschen:

  • Der Körper ist eine Einheit.
  • Struktur und Funktion stehen in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander.
  • Der Körper hat das Potenzial zur Selbstregulierung und Selbstheilung.
  • Leben ist Bewegung.
  • Die Bewegung der Körperflüssigkeiten ist für die Aufrechterhaltung der Gesundheit von essentieller Bedeutung.
  • Für die Steuerung der Körperflüssigkeiten und den Informationsaustausch spielt das Nervensystem eine zentrale Rolle.

Der Körper funktioniert dank der Möglichkeit Bewegungen auszuführen. Es handelt sich dabei nicht nur um die bekannten Bewegungen von Gelenken, sondern auch um feine, rhythmische und unbewusste Bewegungen von beinahe allen Körperstrukturen und Organen. Der Rhythmus der Lunge und des Herzens ist allen bekannt, aber auch die Peristaltik des Darmtraktes, die Bewegungen des Blutes, der Lymphe, des Nervensystems oder der Hirnflüssigkeit gehören dazu. Jede dieser körperlichen Strukturen hat ihre eigene Bewegung, muss sie haben, um möglichst optimal funktionieren zu können.